Sachsen: Demokratie-Initiativen im Freistaat fürchten um ihre Existenz
Wegen des Haushaltsstreits in Berlin fürchten Initiativen wie das Kulturbüro und der Flüchtlingsrat in Sachsen um ihren Fortbestand. Auch von anderer Seite bekommen sie Druck – ausgerechnet vor dem Wahljahr 2024.
Vor dem Wahljahr 2024 stehen zivilgesellschaftliche Initiativen in Sachsen aus mehreren Gründen unter Druck. Ihr drängendstes Problem ist der Streit um den Bundeshaushalt. Sollte sich die Koalition nicht bald auf einen Finanzplan für 2024 einigen, müssten viele Projekte am 1. Januar ihre Arbeit einstellen. Manche fürchten sogar um ihre Existenz.
Kulturbüro Sachsen: Förderzusagen fehlen
Das Kulturbüro Sachsen ist so eine Initiative. Es klärt etwa mit mobilen Beratungsteams im Freistaat zum Umgang mit Rechtsextremismus auf. „Wir haben das immer mal wieder erlebt, dass Fördermittel erst im April oder Mai fließen“, sagt Michael Nattke, Geschäftsführer beim Kulturbüro. Allerdings habe es immer rechtzeitig eine schriftliche Zusage gegeben, dass die Projekte weiter finanziert würden. Die fehlt bislang.
Bezahlung bleibt unklar
Genannt wurde die Zusicherung „vorzeitiger Maßnahmebeginn“, ausgestellt vom Bundesfamilienministerium. Das Haus fördert deutschlandweit nach eigenen Angaben mehr als 700 Projekte, etwa für Demokratie, gegen Antisemitismus und Rassismus.
Per „vorzeitigem Maßnahmenbeginn“ konnten Vereine wie das Kulturbüro Kredite aufnehmen oder Eigenmittel vorstrecken, um etwa Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiter zu bezahlen – so lange, bis verspätete Haushalte verabschiedet waren.
Sachsens Kulturbüro droht Konkurs
Einen solchen „vorzeitigen Maßnahmebeginn“ wird es vom Bundesfamilienministerium RND-Informationen zufolge dieses Mal nicht geben. Die Koalition darf nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 17 Milliarden Euro nicht so einplanen, wie gedacht. Aktuell gibt es deshalb eine Haushaltssperre, um eine Lösung wird im Kanzleramt gerungen.
Für das Kulturbüro bedeutet das Geschäftsführer Nattke zufolge schlimmstenfalls den Konkurs am 1. Januar 2024. „Denn für eine Kündigung von Arbeits-, Miet- und Leasingverträgen ist es jetzt viel zu spät“, sagt er. Auch andere Initiativen sind von der Haushaltskrise betroffen. Beim Sächsischen Flüchtlingsrat müssten einem Sprecher zufolge im Januar mindestens zwei Projekte eingestellt werden.
Initiativen hoffen auf Hilfe vom Land
Aus dieser Lage sieht Michael Nattke vom Kulturbüro zwei Auswege. Sein Verein werde versuchen, so viele Spenden wie möglich zu sammeln, um notfalls wenigstens über die ersten Wochen des Jahres 2024 zu kommen. Vor allem aber hofft er auf Hilfe aus dem sächsischen Sozialministerium. „Die Fördermittel kommen von Bund und Land“, sagt er. Das Ministerium in Dresden könnte, so Nattke, die Landesmittel per „vorzeitigem Maßnahmebeginn“ freigeben und so die Notlage überbrücken. Der sächsische Haushalt für 2024 ist bereits durch.
Sachsens Haushalt für 2024 bereits beschlossen
Ob das Ministerium einspringt, ist allerdings fraglich. Eine Sprecherin sagte der LVZ, dass man sich „mit Nachdruck auf Bundesebene um eine Lösung des Problems“ bemühe, dass sich SPD-Landesministerin Petra Köpping persönlich an Berlin gewandt habe. „Die Bundesministerin ist aufgefordert, eine schnelle Lösung angesichts der dramatischen Lage zu finden“, sagte die Sprecherin. Das sächsische Sozialministerium steht wegen seiner Fördermittelvergabe zur Integration von Flüchtlingen ohnehin schon unter Druck. Zuletzt hatte der Rechnungshof nicht nur das Ministerium, sondern auch zivilgesellschaftliche Akteure selbst kritisiert. Er warf ihnen politische Lobbyarbeit und teilweise „extreme Positionen“ vor, vor allem in der Migrationspolitik.
Auch bundesweit gibt es immer wieder Zweifel an der Arbeit von zivilgesellschaftlichen Initiativen. Gleichzeitig betonen Politikerinnen und Politiker regelmäßig, wie wichtig Demokratie-Arbeit sei – vergangene Woche erst wieder, als der Verfassungsschutz die AfD auch in Sachsen als gesichert rechtsextrem einstufte.
Noch unter Innenminister Horst Seehofer (CSU) sollte die Finanzierung der Projekte reformiert, deren jährliches Bangen ums Geld beendet werden. Die aktuelle Regierung schrieb sich diese Aufgabe in den Koalitionsvertrag. Seit Frühjahr ist mit dieser Idee aber nichts mehr passiert.
Felix Huesmann und Heinrich Jakunin 07.12.2023
Haushaltsstreit gefährdet Opferberatung und Kampf gegen Antisemitismus
Die Haushaltskrise der Ampelkoalition könnte zusätzliche weitreichende Folgen haben: Initiativen gegen Antisemitismus, Opferberatungsstellen und mobile Beratungen gegen Rechtsextremismus befürchten ihr Aus im Januar – weil Fördermittel des Bundes ausbleiben.
Der Haushaltsstreit in der Bundesregierung bedroht die Arbeit von Opferberatungsstellen, Initiativen gegen Antisemitismus und zahlreichen Einrichtungen der Demokratieförderung in Deutschland. Weil durch die Haushaltssperre im Januar ein Ausfall der Zahlung von Fördermitteln droht, rechnen viele Einrichtungen mit ihrer Schließung. Abhilfe durch das Bundesfamilienministerium ist nicht in Sicht.
„Die Nicht-Einigung auf einen Haushalt 2024 führt jetzt dazu, dass die ohnehin am Rand der Belastung arbeitenden Opferberatungsstellen in Bundesländern wie Thüringen und Sachsen-Anhalt höchstwahrscheinlich ihre Arbeit zum 1. Januar einstellen müssen“, sagte Judith Porath dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Sie ist Geschäftsführerin der Beratungsstelle Opferperspektive in Brandenburg und Vorstandsmitglied des Bundesverbands der Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt, VBRG. Täglich würden mindestens vier bis fünf Menschen Opfer von rassistisch, antisemitisch und rechts motivierten Gewalttaten, sagte Porath. Und oftmals seien die unabhängigen Opferberatungsstellen die einzigen, die die Angegriffenen und Verletzten langfristig unterstützten und begleiteten.
Manchen Trägern drohe eine langfristige Pleite: Beratungsstellen warnen vor drastischen Folgen
Vor drastischen Folgen warnte auch Heiko Klare vom Bundesverband Mobile Beratung. In dem Verband sind rund 50 Mobile Beratungsstellen in ganz Deutschland zusammengeschlossen, die in ihren Regionen Politik, Verwaltungen und Zivilgesellschaft zum Umgang mit Rechtsextremismus beraten. „Sowohl wir als Bundesverband als auch die Beratungsteams in den Regionen müssen aktuell davon ausgehen, dass wir zum 1. Januar keine neue Bewilligung bekommen“, sagte Klare dem RND. „Im schlimmsten Fall würde bundesweit keine Beratung stattfinden und die Kolleginnen und Kollegen stünden auf der Straße.“ Manchen Trägern drohe sogar eine langfristige Pleite.
Opferberatungsstellen, Mobile Beratungen, Projekte gegen Antisemitismus und Rassismus und zahlreiche weitere Initiativen werden durch das Programm „Demokratie Leben!“ des Bundesfamilienministeriums finanziert. Nach Angaben des Ministeriums fördert das Programm mehr als 700 Projekte.
Diese Projekte erhielten am vergangenen Freitag eine E-Mail aus dem Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Angelegenheiten, das das Förderprogramm verwaltet. Demnach dürfen derzeit wegen der Haushaltssperre durch das Bundesfinanzministerium keine Zahlungsverpflichtungen für künftige Jahre eingegangen werden. Seitdem herrscht bei vielen von ihnen Unsicherheit, Verzweiflung und Wut.
Bei vielen Betroffenen herrscht Unsicherheit, Verzweiflung und Wut
Da die Förderung durch das Programm „Demokratie Leben!“ in der Regel nur jahresweise bewilligt wird, bedeutet diese Nachricht für zahlreiche Organisationen, dass sie ab dem 1. Januar zumindest vorübergehend kein Geld mehr erhalten – mindestens, bis ein neues Haushaltsgesetz für 2024 verabschiedet ist.
Da das Haushaltsgesetz für 2024 nicht mehr in diesem Jahr verabschiedet wird, sind die Projekte darauf angewiesen, dass ihnen das Bundesfamilienministerium zumindest einen „vorzeitigen Maßnahmenbeginn“ genehmigt. Sie müssten dann ihre laufenden Kosten zunächst aus eigenen Mitteln bestreiten, bekämen diese aber bei einer Verlängerung der Förderung erstattet.
Doch dazu soll es nach Informationen des RND nicht kommen. Das Bundesfamilienministerium teilte zwar noch am Mittwoch auf Anfrage mit, es sei dazu „aktuell in intensiver Klärung“. Bei einem Treffen mit Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen am Mittwochabend in Berlin sagte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) jedoch, dass keine vorzeitigen Maßnahmenbeginne genehmigt würden, wie mehrere Teilnehmer des Treffens dem RND bestätigten.
Zuletzt sprunghafter Anstieg antisemitischer Vorfälle
Auch Initiativen, die sich auf den Kampf gegen Antisemitismus spezialisiert haben, schlagen Alarm. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) sieht die Unterstützung von Betroffenen antisemitischer Vorfälle in Gefahr.
„Dies ist besonders in der aktuellen Situation bestürzend und kann für Betroffene antisemitischer Vorfälle gravierende Auswirkungen haben“, sagte RIAS-Geschäftsführer Benjamin Steinitz dem RND. „Seit den Massakern der Hamas am 7. Oktober gibt es einen sprunghaften Anstieg antisemitischer Vorfälle. Zuletzt hat der Bundesverband RIAS für den Zeitraum vom 7. Oktober bis 9. November 2023 29 Vorfälle pro Tag festgestellt. Bundesweit kommt es weiterhin zu einem anhaltend hohen Meldeaufkommen.“ Er könne seinen Mitarbeitenden nicht garantieren, dass er sie im Januar bezahlen kann, sagte Steinitz. Das sorge bei der Belegschaft für massive Verunsicherungen und existenzielle Nöte. „Das langsam aufgebaute Vertrauen von Juden und Jüdinnen in zivilgesellschaftliche Meldeangebote wird dadurch massiven Schaden nehmen“, warnte der RIAS-Geschäftsführer für den Fall einer Einstellung der Arbeit der Recherche- und Informationsstellen.
Franz Zobel von der Thüringer Opferberatungsstelle Ezra sagte: „Gerade in Bundesländern wie Thüringen, in denen 2024 ein Wahlgewinn der AfD droht, hätte der Wegfall der Demokratieförderung katastrophale Folgen. Zudem würde die Bundesregierung gegen die europäische Opferschutzrichtlinie verstoßen, weil es für die Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Angriffe kein Angebot fachspezifischer Gewaltopferberatung mehr gäbe.“